Er braucht keine Glaskugel

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©Filmladen Filmverleih

Aristokrat, Zeitzeuge, Kämpfer für Menschenrechte und Demokratie, Böhme und glühender Europäer. Und einer, der sich nicht vor Putin fürchtet, sondern „vor unserem Verhalten“. Karel Schwarzenberg wird 85.

Wichtige Stationen

10. Dezember 1937  geboren in Prag
1984–1991  Präsident der Internationalen Helsinki-Födera­tion für Menschenrechte 
1990–1992  Kanzler (Kabinettschef) unter Präsident V. Havel 
2004–2010  Senator im tschechischen Parlament
2005–2007  Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Sicherheit
2007–2009  Außenminister der Tschechischen Republik
2009  Gründung der politischen Partei „Top 09“
2009–2015  Vorsitzender von „Top 09“
Seit 2009  Mitglied des Parlaments der Tschechischen Republik
2010–2013  Erster stellvertretender Ministerpräsident und Außenminister der Tschechischen Republik
2013–2017  Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Parlaments der Tschechischen Republik

Er wusste es. Nicht, dass der russische Präsident so weit gehen würde, einen Krieg anzufangen, aber von der Gefahr, die von ihm ausging. Davor warnte er schon lange. Und eindringlich. „Als Wladimir Wladimirowitsch Putin den Beschluss fasste, die Krim zu besetzen, wischte er mit einem Federstrich eigentlich alle Übereinkommen und alle Sicherheiten, die wir seit 1945 in Europa gehabt haben, beiseite. Hiermit endet eine beträchtliche und sehr erfolgreiche Friedensepoche in Europa“, sagte Karel Schwarzenberg bereits vor acht Jahren in seiner Keynote bei einem Symposium der Academia Superior (Gesellschaft für Zukunftsforschung) in Oberösterreich. Es sei etwas passiert, das in seinen Folgen noch unabsehbar sei, befand er: „nämlich ein offener Rechtsbruch mitten in Europa“. Und wo einer akzeptiert werde, folge der nächste auf dem Fuße: „Wir beobachten soeben, wie die Vorspeise eingenommen wird, die Krim. Ich fürchte, wir werden noch eine georgische Suppe und vielleicht auch eine ukrainische Hauptspeise beobachten können. Wir dürfen nicht vergessen, in der Politik gilt das, was wir oft hören: dass mit dem Essen erst der Appetit kommt. In dem Fall ist es auf jeden Fall so.“ 

Erstauntes Flüstern 
Als diese Worte verhallen, wird die Jahreszahl eingeblendet: 2014. Damit beginnt der Film „Mein Vater, der Fürst“, den Tochter Lila Schwarzenberg gemeinsam mit Lukas Sturm machte.

Das dokumentarische Meisterwerk lief im September in den Kinos an und beleuchtet unerwartet offen, widersprüchlich und kritisch die Vater-Tochter-Beziehung.

Schwarzenberg, seit Jahrzehnten eine der wichtigsten Persönlichkeiten der europäischen Politik und Erbfolger eines der größten Adelshäuser, war freilich nicht der Einzige, der Putins Vorgehen seit Jahren weiterdachte. Doch die Klarheit seiner Worte in Kombination mit dem Zeitpunkt, als er sie formulierte, traf auch das Premierenpublikum im Kino wie der Blitz: geflüstertes Staunen in den Sesselreihen. 

Kiew wird leben 
So düster die vorausgesagten – und mittlerweile teilweise eingetretenen – Zukunftsszenarien auch klingen, Schwarzenberg ist kein Pessimist. Im Gespräch mit Autorin Susanne Scholl, sie war viele Jahre ORF-Auslandskorrespondentin in Moskau, sagte er vor wenigen Monaten: „Kiew wird leben. Ja, es wird einiges zerstört und zerschossen werden, aber Kiew wird eine fröhliche, weltoffene Stadt bleiben. Weil sich die Stadt in den vergangenen Jahrzehnten sehr verändert hat.“ Abseits der Gräuel des Krieges ortete er sogar positive Auswirkungen: „Die NATO hat sich besonnen, die europäischen Völker sind zusammengerückt, die Deutschen haben ihre Illusionen über Russland aufgegeben.(Quelle: Datum 05/22)

Bereits wenige Wochen nach Ausbruch des Krieges wies Schwarzenberg in einem Gespräch mit der Austria Presse Agentur auf haarsträubende Parallelen zwischen Hitler und Putin hin. „Die Argumentation ist dieselbe, wie weiland die des Führers gegenüber Österreich: ,Das ist keine selbstständige Nation, das ist ein Teil unserer Nation, sie haben kein Recht, eine selbstständige Politik zu machen.“ Zudem hätte man vieles kommen sehen müssen, fand er. „So wie seinerzeit manche Politiker Hitlers ,Mein Kampf‘ gelesen haben, aber nicht geglaubt haben, dass das einer so ernst meint, so haben sie jetzt auch nicht geglaubt, dass es Putin ernst meint.“ 

Verfall der demokratischen Parteien 
Es lohnt sich, die eingangs beschriebene Rede von 2014 in voller Länge auf YouTube nachzusehen; Karel Schwarzenbergs Kritik galt darin nicht allein dem russischen Präsidenten. So führte er als eines der vielen „Krisensymptome“ Europas etwa den „Verfall der großen demokratischen Parteien“ an. „Ganz neue Erscheinungen beherrschen die politische Szene: Entweder die Nationalisten, die mit nationalen, rassistischen und anderen Vorurteilen arbeiten, oder wir haben rein populistische Parteien.“ Zu hinterfragen sei prinzipiell die Motivation, Politik machen zu wollen: „Nur wenn ich meine Arbeit als Dienst an meinem Lande verstehe, kann ich Politik halbwegs vernünftig betreiben. Ohne das gleitet es in Interessenspolitik ab.

Und Schwarzenbergs Analyse hat Gewicht. Wie sehr er sich von Kindesbeinen an für Politik interessierte, bringt er in der Doku seiner Tochter pointiert auf den Punkt: „Ich war mit acht, neun politisch mehr gebildet als heute 18-Jährige. Dafür wissen heute Achtjährige mehr über Sex als ich damals mit 18. Das ist der Unterschied der Generationen“, lacht er.

Zur Auseinandersetzung mit Politik zwang ihn schmerzlich auch die Zeit, in der er aufwuchs: Das Schloss Orlík war sein Zuhause; als sich seine Eltern gegen die Nazis stellten, mussten sie das erste Mal ausziehen. Ihre Rückkehr währte nach dem Krieg nicht lange. „Mami hat mir schon ’47 gesagt: ,Ich sehe, wie du das Ganze hier liebst, wie du damit verbunden bist. Wir werden das alles verlieren und wahrscheinlich werden wir auch emigrieren müssen“, erinnert er sich. 1948, bei der Machtübernahme der Kommunisten in Prag, geschah eben das: Die Familie musste mit dem Koffer in der Hand ihre Heimat verlassen und flüchtete nach Wien.

Familienoberhaupt 
In jungen Jahren hatte Karel Schwarzenberg davon geträumt, Journalist zu werden. Doch sein Onkel, das Oberhaupt der österreichischen Schwarzenberg-Familie, hatte keinen männlichen Erben; so wurde Karel von ihm adoptiert, um später als Familienoberhaupt den Besitz zu verwalten. Diese Funktion nahm er stets ernst; das Wissen um die Verantwortung brachten ihm bereits seine Eltern bei, sagt er. „Wir haben Besitze bekommen, damit wir damit dienen. Das habe ich versucht, zeit meines Lebens zu machen. Reichtum verpflichtet, das ist Teil meiner Überzeugung, sonst haben wir keine Berechtigung zu sein, was wir sind.

Schwarzenberg war nie ein Karrierist, es gab sogar Phasen, in denen er sich treiben ließ, schreibt Barbara Tóth in ihrer Biografie („Karl von Schwarzenberg“, Ueberreuter Verlag). „Was ihn aber über alle Maßen prägt, ist das Selbstverständnis, bereitzustehen, wenn gesellschaftliche Aufgaben zu übernehmen sind. Er ist damit ein Aristokrat im besten Sinne, wie der ehemalige österreichische Bundespräsident Heinz Fischer es einmal formuliert hat: einer, der seine Herkunft nicht als Privileg, sondern als Verantwortung versteht.

Die schönste Zeit 
Schwarzenbergs Herz schlug stets parallel für die Politik; in Wien agiert er ab den 1960ern zunächst hinter den Kulissen, 1984 macht ihn Bruno Kreisky zum Präsidenten der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte. Seine Sehnsucht nach Böhmen, den Orten seiner Kindheit, ebbte niemals ab; als sich der Umbruch in Osteuropa abzeichnete, hoffte er zunächst eher zaghaft, sich dort zumindest wieder ein Refugium mieten zu können. „Du weißt nicht, was es heißt, wenn man 41 Jahre nicht zu Hause ist“, sagt er im Film zu seiner Tochter. Im Zuge der „Samtenen Revolution“ passierte aber weit mehr. 1990 wurde er Kabinettschef des Dichterpräsidenten Václav Havel, mit dem er auch jahrelang freundschaftlich verbunden war; der international bestens vernetzte Schwarzenberg wurde zum Mitgestalter der jungen Demokratie in der damaligen Tschechoslowakei. „Das war die schönste Zeit meines Lebens.

Sie markiert gleichsam den Beginn der eigentlichen politischen Karriere; später wirkte er auch an der deutsch-tschechischen Aussöhnung mit.

70-jährig wurde Karel Schwarzenberg das erste Mal Außenminister. Zwei Jahre darauf gründet er die Partei „Top 09“ und schafft es 2010 auf Anhieb ins tschechische Parlament und in die Regierung. „Der Aristokrat mit fränkisch-böhmisch-österreichischen Wurzeln und einem Schweizer sowie tschechischen Pass wurde in Tschechien zu einer Hoffnungsfigur für eine neue Politik, jenseits von altem Kaderdenken, jenseits von Korruption (…) und jenseits von ,Wir zuerst‘-Nationalismen“, analysiert die Biografin Barbara Tóth. Er kombiniert „eine wirtschaftsfreundliche Politik mit der Nachhaltigkeitsidee und den gesellschaftsliberalen Ansichten der Grünen“. 2013 kandidiert der Fürst sogar für das Amt des Staatspräsidenten und schafft es souverän in die Stichwahl; als Sieger geht aber schließlich Miloš Zeman hervor. Tóth: „Die Eckdaten seiner beeindruckenden politischen Karriere (…) sind das eine, das andere ist Schwarzenbergs Wirken abseits der offiziellen Positionen, die er innehatte. Es lässt sich am besten als ,Dauer-Entwicklungshilfe in Sachen Demokratie‘ beschreiben.

Feigheit und Egoismus 
Es sind hochemotionale Augenblicke, als Karel Schwarzenberg nach mehrfachem Applaus für die Filmpremiere seiner Tochter in der Wiener Urania zur Bühne gebeten wird. 85 Jahre alt wird der „Mitgestalter Europas“ im Dezember, er sitzt im Rollstuhl, aber sein Geist ist wach und es gelingt ihm von einem Augenblick auf den anderen, fokussiert auf das Thema einzugehen, das den Menschen auf der Seele brennt: den Ukraine-Krieg. „Wovor ich die größte Angst habe, sind die Leute, die sagen, man muss einen Kompromiss machen“, leitet Schwarzenberg eine als fiktiven Dialog geführte Analyse ein. „Aha, was bieten Sie als Kompromiss an? – Nicht ich, die Ukraine muss das machen. – Aha, Sie meinen, die Ukraine soll einen Teil ihres Gebietes abtreten und zur Kenntnis nehmen, dass sie um die Krim kommen oder die östlichen Provinzen. Das ist der Kompromiss, den Sie sich vorstellen? Damit wir Ruhe haben, damit wir Gas haben, sollen sich die Ukrainer opfern?“, fragt er und setzt mit Nachdruck fort: „Das ist die größte Gefahr, die ich heute sehe. Die Feigheit und der Egoismus von unserer Seite. Ich habe nicht vor Putin Angst, ich habe vor unserem eigenen Verhalten Angst.

Ob es mit dem russischen Präsidenten irgendwann auch wieder eine vernünftige Gesprächsbasis geben kann, fragte ihn zuletzt die Russland-Expertin Susanne Scholl. Karel Schwarzenberg: „Solange er an der Macht ist, muss man mit ihm reden. Nicht, dass ich mein Misstrauen gegen ihn aufgeben würde, aber reden muss man mit ihm. Das ist das ABC der Außenpolitik.


„Ich schaute auf die Häuser meiner Freunde und wünschte mir, ich könnte dort leben.“, Lila Schwarzenberg. ©Filmladen Filmverleih

Eine Annäherung

„Mein Vater, der Fürst“: ein bewegender Appell für Eltern-Kind-Beziehungen, für die es nie zu spät sein kann.

Manchmal möchte man den Atem anhalten. Wenn sie zum Beispiel sagt, dass sie lange große Angst vor ihrem Vater hatte. „Obwohl er liebend war“, betont Lila Schwarzenberg. Es lag an seiner Strenge, sagt sie. Ablegen konnte sie das erst als Erwachsene, als sie selbst Mutter wurde. 

Ein konträres Bild zum weltoffenen, mit Humor und Selbstironie ausgestatteten Politiker und Schwarzenberg-Familienoberhaupt? Nein, die Sache ist komplexer und die Filmdokumentation tut sogar mehr, als hinter die Kulissen zu blicken. Dass aus „Mein Vater, der Fürst“ keine klassische Doku über Karel Schwarzenbergs Leben wurde, sondern ein bewegendes und mitunter schonungsloses Vater-Tochter-Porträt, „passierte“ unterwegs. Angestoßen von den ersten Arbeiten im Schneideraum. Lila Schwarzenberg und Lukas Sturm sichteten das erste Material und stellten fest, dass die spannenden, am meisten emotional aufgeladenen Momente in der Interaktion zwischen Vater und Tochter stattfinden.

Von Rebellion und Schicksal
Insgesamt sieben Jahre lang wurde an dem Film gearbeitet, gedreht wurde zwischen 2016 und 2021 an bedeutenden Orten für die Schwarzenbergs: in Südböhmen, Prag, Wien und der Steiermark. Wichtiger als die eindrucksvollen Kulissen sind die Gespräche zwischen den beiden, wie sie einander zu verstehen und zu finden versuchen. „Wie wichtig ist dir Familie?“, fragt sie. „Wahnsinnig wichtig“, antwortet er. „Wir Geschwister lachen immer, dass du den größten Familiensinn hast, aber am wenigsten mit der Familie umgehen kannst“, entgegnet sie. Er darauf: „Das ist vielleicht meine Schwäche. Bei den öffentlichen Auftritten wird das heute niemand merken. Aber ich bin von Natur aus wahnsinnig scheu. Im Familienverkehr ist das am stärksten erhalten. Ich habe keine Schwierigkeit, vor einer tausendköpfigen Menge eine Rede zu halten, aber ich habe sicher meine Schwierigkeit, meinen Kindern gegenüber Gefühle auszudrücken.

Lila Schwarzenberg konnte hingegen schon als Kind nichts mit ihrer Prinzessinnen-Rolle anfangen. „Ich habe hinuntergeschaut (vom Schloss Murau, Anm.) auf die Häuser meiner Freunde und mir gewünscht, ich würde dort unten leben.“ Zudem fühlte sie sich in der Familie Schwarzenberg als nicht so vollwertig wie ein Sohn, sagt sie; „es gibt eine Area, da gehörst du als Tochter nicht dazu“, erklärt sie. Sie wird jung rebellisch, bricht aus – und rutscht in eine Drogensucht ab. Als sie in einer ausweglosen Situation um Hilfe bittet, bringt sie ihr Vater vorwurfsfrei in eine Klinik.

Das sollte nicht der einzige Schicksalsschlag bleiben; zur Zäsur für die Familie wird der folgenschwere Skiunfall der Fürstin, der die Ärztin und Sportlerin lange mit Schmerzen ans Bett fesselt.

Stück für Stück besprechen Vater und Tochter ihrer beider und ihr gemeinsames Leben und wenngleich diesen Gesprächen jene Leichtigkeit fehlt, die man sich in einer vertrauten Eltern-Kind-Beziehung wünscht, so ermöglicht ihr aufrichtiges Bemühen eine Annäherung.

Der Film zeigt, was ein Gespräch erzielen kann, dass es sich auszahlt, wenn man neugierig ist; man lernt voneinander, versteht einander besser“, beschreibt Filmemacher Lukas Sturm nach der Premiere. In einem Interview mit Filmpublizistin Karin Schiefer sagt er im Vorfeld: „Es ist erstaunlich, wie alles verblasst, was der Name Schwarzenberg mittransportiert. (…) Übrig bleiben eine Tochter und ein Vater. Wir haben die Rohschnitte Männern wie Frauen gezeigt und alle zeigten sich berührt, Söhne wie Töchter. Die Geschichte zwischen einem Kind und einem Elternteil ist interessanterweise so viel stärker als die Assoziation des Materiellen rund um diesen Familiennamen.“ Lila Schwarzenberg: „Ich erinnere mich an einen Moment, wo ich ihm eine Frage stelle und er antwortet, er ist sich nicht sicher, ob man als Vater seine Kinder je wirklich kennt. Es gibt manche Aussagen, wo diese Fremdheit, obwohl man blutsverwandt ist, angesprochen wird, und die gibt es, denke ich, in vielen Familien.

Der Film. „Mein Vater, der Fürst“ startete im September im Kino. Kurz davor gewann Lila Schwarzenbergs und Lukas Sturms Werk den Dokumentarfilmpreis beim Filmfestival Kitzbühel.

Text: Viktória Kery-Erdélyi