
Einschlafen, durchschlafen, ausgeschlafen aufwachen. Klingt verlockend? Warum das nicht Wunschkonzert bleiben sollte und wie es gelingen kann.
Fer Dalai Lama macht es uns vor: Er geht um 19 Uhr schlafen, um drei Uhr steht er zur Meditation auf. „Seine Heiligkeit sagt: Schlaf ist die beste Meditation“, zitiert ihn Michael Puntigam, Ernährungsberater nach der Traditionellen chinesischen Medizin (TCM). Seinem Körper tut der Dalai Lama -einen Gefallen: „Das entspricht der idealen Ruhezeit nach der TCM.“
„Das menschliche Hirn ist alt. Wir sind auf eine Zeit gepolt, als wir am Lagerfeuer gesessen sind bzw. der Sonne beim Untergehen zugeschaut haben“, weiß Stefan Seidel, Facharzt für Neurologie und Leiter der Ambulanz für Schlafstörungen am Wiener AKH. Dass wir uns an Sonnenauf- und -untergang orientieren, wird sich bei den wenigsten ausgehen. Was wir aber alle sehr wohl können: anstatt durch soziale Netze zu surfen, bewusst Rituale „zum Runterkommen“ zu wählen.
Die Pandemie kostet uns viel Nerven und Kraft – und stört auch unseren Schlaf. Das stellt Stefan Seidel bei den Kontakten mit Patientinnen und Patienten insbesondere in den vergangenen Monaten fest. Auch die Psychotherapeutin Cornelia Janisch-Binder erlebt das in ihrer Praxis: „Häufig sind die Einschlaf- und Durchschlafprobleme bzw. das Gefühl, nach dem Aufwachen sich wie gerädert zu fühlen, aber eher Begleiterscheinungen“, sagt sie.
Wie viel Schlaf braucht der Mensch eigentlich? Was ist guter Schlaf – und wie kann ich ihn begünstigen? Rollen wir die Sache einmal grundlegend auf.
Cocktail aus Tief- und Rem-schlaf
„Der Schlaf ist über die Lebensspanne hinweg ein dynamisches Phänomen. Kleine Kinder schlafen über mehrere Portionen verteilt bis zu 14, 16 Stunden, ein Mensch über 80 oft nur mehr fünf oder sechs“, sagt Facharzt Stefan Seidel. Anzupeilen sei für Erwachsene bis 50, 55 Jahre im Schnitt eine Dauer zwischen sieben und acht Stunden – im Idealfall täglich nach demselben Schema. Wesentlich für die Erholung ist „guter Schlaf“. „Objektiv gesehen bedeutet das, dass die Zusammensetzung stimmt: Der Tiefschlaf sollte ungefähr ein Viertel ausmachen, in etwa derselben Größenordnung sollte der REM-Schlaf vorkommen (Rapid eye movement, Phase der intensivsten Träume, Anm.), um körperlich und seelisch reguliert wieder aufzuwachen. Eine Reduktion oder das Fehlen von REM-Schlaf kann sich auch emotional – etwa durch Gereiztheit – bemerkbar machen“, sagt Seidel.
Offline
Entscheidend für den einzelnen ist das subjektive Erleben: schnell einschlafen, möglichst gut durchschlafen und in der Früh erholt aufwachen zu können. „Der Schlaf ist ein neuronaler Vorgang, eine Veränderung des Bewusstseins; wir sind da sozusagen offline. Vermessen lassen sich die Schlafstadien im Schlaflabor mit EEG-Elektroden und entsprechender Expertise“, erklärt der Neurologe. Die Sleep-Tech-Industrie floriert zwar, gängige Gadgets liefern aber eher eine Idee vom Schlaf, sagt er. Sensoren am Handgelenk registrieren beispielsweise Bewegungen bzw. Pulswelle, daraus werden Wahrscheinlichkeiten errechnet, wann Tiefschlaf stattfindet.
„Man kann das gut verwenden, wenn man am eigenen Schlaf interessiert ist. Abzuraten ist davon, wenn man beginnt, akribisch Daten zu analysieren, um sich zu optimieren. Das verursacht Stress und möglicherweise sogar ein Schlafproblem“, warnt Seidel. Das Phänomen hat mittlerweile einen Namen: „Orthosomnie“. Das Wort setzt sich aus „orthos“ (richtig) und „somnos“ (Schlaf) zusammen. Die Herzensbotschaft des Facharztes: „Das Wichtigste ist, dem Schlaf optimistisch gegenüber zu stehen. Natürlich gibt es Schwankungen von Nacht zu Nacht, aber die eigene Gelassenheit nach dem Motto ,wird schon gut sein‘ hat einen wirksamen Placeboeffekt auf den Schlaf.“
Grossputz und Back-up
Schlaf ist ein Allrounder und trägt die Verantwortung für viele unabkömmliche Prozesse. Dazu zählt etwa das Abräumen von Nervenzell-Müll. Täglich sammeln sich Eiweißkörper im Hirn an, die im Extremfall bei einer Alzheimer-Demenz überhandnehmen und so die Nervenzellfunktion stören. Vereinfacht gesagt: Fehlt der Tiefschlaf, kann nicht ausgemistet werden.
Umgekehrt hat der Schlaf positive Wirkung auf das Gedächtnis: Es bilden sich neue Synapsen, die miteinander funktionieren, Gelerntes wird in die Hirnrinde – also auf die Festplatte – transportiert.
Im Schlaf werden Wachstumshormone ausgeschüttet, das Immunsystem wird gestärkt und wertvoll ist auch das Träumen selbst. „Wir können im Traum probehandeln und sind dabei – das ist emotional wichtig – frei von jeglicher Moral; alles ist erlaubt. In einem sozialen Gefüge, wo zum Glück nicht alles erlaubt ist, ist das für das Wohlbefinden essenziell“, weiß der Neurologe.
Dass die Zahl der Ratsuchenden in der Schlafambulanz zuletzt zunahm – Schlafprobleme haben Frauen und Männer etwa zu gleichen Teilen – bedeute gleichsam auch, dass das Bewusstsein für den Stellenwert des Schlafes steigt. Doch während die Insomnie „gesellschaftsfähig“ scheint, kämpfen Menschen, die unter Hypersomnie leiden, also der Neigung, ungewollt einzuschlafen, weiterhin mit Stigmata. „Betroffene werden als faul angesehen, ihnen wird geraten, den Beruf sein zu lassen, ihre Mobilität ist eingeschränkt“, bedauert Seidel. Die bekannteste Form ist die Narkolepsie; sie ist eher selten, die Schlafapnoe (Atemaussetzer im Schlaf), die ebenfalls mit Müdigkeit und Tagesschläfrigkeit einhergeht, viel häufiger.
Der Weg in die Schlafambulanz führt im Idealfall über Zuweisung durch niedergelassene Ärzte; ehe medizinische Untersuchungen stattfinden, wird vieles mit gezielten Fragen abgeklärt. Eine Kernfrage, die Stefan Seidel den Patientinnen und Patienten zu Beginn stellt: „Sind Sie noch die Person, die Sie sein könnten bzw. sein möchten?“
Krankheiten wie Restless-Legs-Syndrom, Narkolepsie, schwere Formen von Somnambulismus (Schlafwandeln) oder REM-Schlaf-Verhaltensstörung werden in der Regel medikamentös therapiert; bei den weit häufigeren, „klassischen“ Formen von Insomnie geht man laut dem Facharzt Stefan Seidel mittlerweile weg von langfristigen Medikamentengaben und vielmehr hin zur Psychotherapie.
Die Illusion von Kontrolle
Cornelia Janisch-Binder ist Gestalttherapeutin; Lücken gibt es in ihrem Terminkalender seit der Pandemie kaum, mindestens 80 Prozent ihrer Klientinnen und Klienten klagt auch über Schlafprobleme. „Die Menschen stehen unter enormem Stress“, sagt sie. Das hat zum einen reale Gründe, weil sich alles verdichtet, Positionen oftmals nicht nachbesetzt werden, der Aufwand für den einzelnen größer wird. Zum anderen liegt es aktuell an unserem subjektiven Gefühl von Kontrollverlust. „Kontrolle ist ohnehin Illusion, doch selbst die Illusion ist jetzt weg.“
Das Stresshormon Kortisol ist gleichsam der Gegenspieler des Schlafhormons Melatonin; es gilt also den Stress zu reduzieren. Dabei können kleine Schritte Großes bewirken. „Wir kennen uns am besten selbst und wissen, wie und wo wir jeweils Energie tanken können.“ Manchen hilft es, aufs Wasser zu schauen – das kann auch ein Teich inmitten eines Stadtparks sein; der Entspannung dienen ebenso bereits dreiminütige Tagträume, „in denen man wirklich nur dasitzen sollte und dafür sorgen, dass für diese paar Minuten nichts anderes ist“, erklärt Janisch-Binder.
Halten die Schlafprobleme über Monate an, wendet man sich am besten an Expertinnen und Experten; die Psychotherapeutin schlägt zudem einige Methoden für den Eigengebrauch vor.
Versperrt im Tresor
Liegt man nachts wach, kann die Tresorübung helfen. „Ich packe die Gedanken, die mich nicht schlafen lassen in einen Tresor und stelle mir vor, wie ich ihn irgendwohin stelle, wo ich ihn am nächsten Tag herausholen kann, um Lösungen zu finden“, schildert Janisch-Binder. „Meinen eigenen Tresor versenke ich beispielsweise tief unten im Meer.“ Kombinieren lässt sich das gut mit der Stoppübung, wenn konkrete Ängste und Sorgen im Kopf Karussell fahren. „Da stellt man sich beispielsweise eine Stopptafel vor oder etwas anderes, das für einen persönlich ,Stopp‘ bedeutet.“
Quälen in der Nacht die To-do-Listen, hilft ein Block neben dem Bett; notiert man sich ein paar Dinge, hat man oft die schlafraubende Sorge los, etwas Wichtiges zu vergessen.
Ein erfolgversprechender Mix für besseren Schlaf sind Natur, Bewegung und frische Luft – „und zwar bei jedem Wetter“, betont die Psychotherapeutin. Außerdem hilfreich gegen eine durchwachte Nacht: Die Fenster öffnen und tief einatmen.
Den Schlaf fördert laut -Janisch-Binder auch das sanfte Massieren (mit Zeige- und Mittelfinger) von Akupressurpunkten: beispielsweise zwischen den Augenbrauen, unterhalb der Nase/oberhalb der Lippe, unterhalb der Unterlippe und zwischen den Schlüsselbeinen. Wirksam und beliebt ist die Muskelrelaxation. Selbst liegend kann man bei den Zehen beginnend nacheinander die Körperteile für zehn Sekunden anspannen, um sie danach jeweils wieder -bewusst zu entspannen.
Kein Fleisch, lieber Grünes Gemüse
Maßgeblich beeinflusst wird der Schlaf durch die Ernährung, weiß TCM-Experte Michael Puntigam. Verursacht wird Insomnie „durch eine Disharmonie zwischen dem Feuer-Element – dafür stehen Herz und Dünndarm – und den damit in Verbindung stehenden Organen und Elementen“, erklärt er. Ein Beispiel aus einer Reihe von Szenarien, denen die TCM negativen Einfluss auf den Schlaf zuschreibt: Leber und Gallenblase stören das Herz bzw. Emotionen wie Ärger und Sorge erzeugen einen störenden inneren „Wind“.
Die Uhrzeit, in der Schlafprobleme auftreten, kann Hinweise darauf geben, welcher Funktionskreis betroffen ist (siehe Abbildung Organuhr). „Essen wir zu spät, belastet der Magen das Herz“, erklärt Puntigam. Das Essen sollte abends bekömmlich sein und keine Hitze oder Stagnation erzeugen. Im Sinne der TCM sind Lebensmittel wie scharfe Gewürze, Alkohol, Fleisch und Hafer kontraproduktiv, weil sie eher munter machen. „Es ist wichtig, den Stoffwechsel zu unterstützen, damit ausreichend neues Blut nachproduziert wird; an Eisen und B-Vitaminen reiches Blut fördert einen gesunden Schlaf“, sagt Puntigam. Empfehlenswert für das Abendessen nach TCM sind etwa Weißkraut, Cashew- und Kürbiskerne, Hopfen (alkoholfreies Bier), Johanniskraut, Kakao, rote Rüben oder grünes Gemüse wie Spinat und Brokkoli. Einen Klassiker unter den Einschlafhilfen interpretiert der TCM-Ernährungsberater neu: Er empfiehlt ein Glas warme Mandelmilch mit Honig und einem Faden Safran. „Aus Sicht der TCM ist es aber mit einem Schlaftrunk nicht erledigt“, betont er. Anhaltende Probleme kann man mit individuell angepasster Ernährung und Kräuterrezepturen entgegenwirken; diese sollen „tags wie nachts einen Ausgleich von Yin und Yang und der Elemente“ herstellen.
Spirituelles Betthupferl
„Der Schlaf ist nicht etwas, das man ein- und ausschalten kann“, sagt Neurologe Stefan Seidel. „Der Mensch braucht eine Vorlaufphase, man muss den Tag ausklingen lassen.“ – „Ein schönes Ritual: Vor dem Schlafen den geistigen Mülleimer leeren“, schlägt TCM-Experte -Michael Puntigam vor. „Schauen wir uns an, was wir heute gemacht haben und dann lassen wir mit ein paar guten Gedanken los.“ Ideal seien zudem Atem- und Meditationsübungen, die Körper und Geist auf die Nacht vorbereiten.
Einmal etwas anderes als Betthupferl: Im Vorjahr gab der Dalai Lama zum 85. Geburtstag sein Debütalbum „Inner World“ heraus – mit Mantras, Lehren und Musik.
